Ecce Homo
Weniger als die Hoffnung auf ihn
das ist der Mensch
einarmig
immer
Nur der gekreuzigte
beide Arme
weit offen
der Hier-Bin-Ich
(Hilde Domin 1909-2006)
Was ist der Mensch? Das ist der Mensch: „Weniger als die Hoffnung auf ihn“. So ist es wohl: Der Mensch ist immer enttäuschend. Immer wieder einander enttäuschend und enttäuscht. Enttäuschend, die Menschheit, das Große, und mein Gegenüber auch, Du und Ich. Die Hoffnung täuscht: Der Mensch bleibt unvollständig, irrend, fehlend. Eben „einarmig“. Immer. Trotz aller guten Vorsätze und Ideen. Trotz des guten Willens und auch des guten Gelingens; trotz der alltäglichen und vielversprechenden Ausnahmen, der leuchtenden Beispiele. Der Mensch bleibt doch einarmig, immer, mit zwei Herzen in der Brust; immer auf der Suche. Verkrümmt in sich. Unfähig etwas ganz zu tun. Der Mensch, wie ein uneingelöstes Versprechen. Wie ein abgebrochener Versuch.
„Nur der gekreuzigte“ sagt die Dichterin: „beide Arme weit offen“. Nur er, am Kreuz, verletzt, gequält, sterbend, aber mit zwei Armen. Ausgebreitet und geweitet. Nur er in seinem Leid und seiner Liebe ist ganz und heil. Ein ganzer Mensch. Ein wahrer Mensch. Im Sterben so, wie er im Leben war: Ganz da. Ganz klar. Ganz dem Nächsten zugewandt. Wehrlos und offen zugleich. Beide Arme „weit offen“.
Der Gekreuzigte ist der „Hier-Bin-Ich“. Ist der Name, mit dem sich einst Gott dem Mose im brennenden Dornbusch zu erkennen gab. Gott ist der „Hier-Bin-Ich“, der „Ich-Bin-Da“ unseres Lebens: immer wieder gegenwärtig, sich zeigend und erweisend auf dem Weg. An unserer Seite. Auf unserer Seite. Und Christus? Ist eben darin Gottes Sohn. Indem er auch im Leid nicht von uns weicht. Uns nicht lässt. Beide Arme weit offen: einladend, auffangend, umarmend. Ecce homo: Seht, welch ein Mensch.
Das ist der Mensch: Die Hoffnung, die in uns aufgehoben ist, dass wir Einarmigen uns öffnen können und mögen. Unsere Seelen, unsere Herzen, unsere Körper. Beide Arme. Damit wir miteinander ganz werden.
Heute, Karfreitag, sah ich im ARD Gottesdienst ( St Mang/ Kempten) ein Kruzifix, das mich sofort an das Domin Gedicht erinnerte: Das Kreuz war weg, der Korpus an einem einem vertikalen Balken quasi schwebend angebracht. Jesus breitet beide Arme segnend aus. Aus dem Gekreuzigten wurde so der segnende Christus.
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