Lyrik am Freitag – Rilke: Geduld

Über die Geduld

 

Man muss den Dingen

die eigene, stille,

ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt,

und durch nichts gedrängt

oder beschleunigt werden kann;

alles ist Austragen –

und dann Gebären…

 

Reifen wie der Baum,

der seine Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen

des Frühlings steht,

ohne Angst,

dass dahinter kein Sommer

kommen könnte.

Er kommt doch!

 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

die da sind,

als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,

so sorglos still und weit …

 

Man muss Geduld haben,

gegen das Ungelöste im Herzen,

und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben,

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache

geschrieben sind.

 

Es handelt sich darum, alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt,

lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken,

eines fremden Tages in die Antwort hinein.

 

(Rainer Maria Rilke 1875-1926)

 

Dieser Rilke-Text (aus dem „Brief an den jungen Dichter“) erreichte mich vor zwei Tagen mit der Post. Ein Mitmensch schickte ihn mir. Ein Mensch, der nach einem Verlust vor einiger Zeit immer noch in tiefer Trauer lebt. Für den sich die Welt leer anfühlt, das Leben oftmals ohne Sinn und Aufgabe und Zusammenhang. Der dazu, in dieser pandemischen Zeit, mit wenig Außenkontakten und fehlenden Gemeinschaftserlebnissen auskommen muss. Ein Mensch auf der Suche nach einem Neuanfang, nach Lebensmut und einem neuen Gefühl des Aufgehobenseins. Rilke scheint um diese Grunderfahrung und diese Suche zu wissen, um das „ungelöste im Herzen“; um die Fragen, die uns wie unverständliche „Bücher“ oder verschlossene „Stuben“ erscheinen.

Der Dichter ruft uns zu wie Bäume zu sein. Und ich denke an den Psalm 1, der den glücklichen Menschen mit einem Baum vergleicht, der an einem frischen Wasser gepflanzt ist. Ein Baum, der seine Wurzeln ausstreckt und sich nähren kann von dem, was da ist und lebendig und was wir nicht machen können. In jüdisch-christlicher Tradition wird diese Quelle oft „Gottes Wort“ genannt. Ein Baum mögen wir sein, so Rilke, der „getrost“ den Frühlings-Stürmen und der April-Kälte trotzt; furchtlos, weil er auf einen fruchtbaren Lauf der Zeit, auf eine Ordnung der Dinge vertraut, die ihn trotzdem und vielleicht gerade, weil es die Härten gibt, „reifen“ lässt. Der eben weiß, dass der Sommer, die Zeit der Fülle und der Ernte kommen wird („und er kommt doch!“). Ein Sommer, den der Baum, den wir nicht beschleunigen können und der nicht in unserer Verantwortung liegt. Ein Mensch wie ein Baum, der gewiss ist, dass er auf gutem Grund steht, in guten Händen ist; der loslassen und vertrauen kann.

Nicht untätig, so verstehe ich Rilke aber auch. Sondern all das, was in mir treibt, drängt und fließt, auch das Schwere, die Fragen eben, mögen tätig gelebt werden. Sie dürfen sich entwickeln. Ja die Fragen mögen von mir sogar „lieb gehabt“ werden, weil, so verstehe ich es, in ihnen mein Leben steckt, weil ich in meinen Fragen bin. Und wenn ich meine Fragen nicht verdränge, sondern sie beharrlich stelle, sie „austrage“, so – das ist Rilkes Hoffnung bzw. seine Erfahrung – entstehen Antworten, mit denen ich leben kann; werden die Antworten aus mir heraus „geboren“. „Vielleicht“, so sagt es der Dichter auch, „eines fremden Tages“. Die „Dinge“ bleiben geheimnisvoll. Und darin hoffnungsvoll.

Der Mensch, der mir den Text schickte, wollte wohl seine Hoffnung, die für ihn in diesen Zeilen steckt, mit mir teilen („geteilte Hoffnung ist doppelte Hoffnung“) und dadurch eine Gelassenheit mehren, wie sie den Geduldigen zu eigen ist. Geduldige, „die da sind, also ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit…“.

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4 Kommentare

  1. Welch ein wunderschönes Gedicht über die Geduld, gerade jetzt in der Coronazeit! Ich kannte es bisher gar nicht. Rilke schreibt so gegenwärtig, dass es mich anregt, in meine eigene Geduld hineinzuwachsen. Es gehört wirklich zum Geheimnis des Lebens, es wachsen lassen zu können, was in mir reifen will, aber dafür braucht es Gottvertrauen, das sich in dieser Geduld bewährt. Herzlichen Dank für diese schöne Botschaft!

  2. Geduld mit sich selbst zu haben, ist wohl mit das schwierigste was es gibt. Manchmal dauert es Jahrzehnte in denen das Herz ungelöst bleibt. Mich hat dieser Text über die Geduld sehr berührt und ermutigt. Er gibt neue Hoffnung. Vielen Dank für diesen schönen Text.

  3. Es ist wohl kein Zufall, dass ich just diese Tage Rilkes Zeilen wieder begegne… sie begleiten mich schon viele Jahre, scheinen aber immer in Augenblicken aufzutauchen, da sie mir etwas besonderes mitteilen wollen- mich erinnern quasi… innezuhalten und Fragen zu stellen…ich habe im Laufe der Jahre gelernt, ihrem Nachhall zu lauschen, in mich hinein zu lauschen, um aber nur selten zeitgleich eine Antwort zu erhalten…ich bin per se schon recht geduldig- aber diese Art von Geduld hat einen anderen Tenor irgendwie…ja- eine tiefe Gelassenheit, Zuversicht…

  4. Rilke ruft dazu auf, Geduld zu haben MIT DEM Ungelösten, nicht „gegen das“!
    Das ist etwas ziemlich anderes.
    Da hat sich jemand das Gedicht zurecht gebogen. Das kann man so nicht mehr Rilke zuschreiben.
    Herzliche Grüße
    Gregor

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