Lyrik am Freitag – Kunze: Großmutter

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Die Arme – zwei Henkel,
Großmutter ist ein Krug.

Sie ist ein Krug voll Honig.

An jedem Henkel
klebt ein Enkel,
die haben nie genug.

Reiner Kunze (geb. 1933)

In unsere Zeit und zu unseren „modernen“ Großmüttern passen die Zeilen, das Bild, das Reiner Kunzes zeichnet, nur bedingt. Eine Großmutter, die ein „Krug“ ist, mit Armen wie „zwei Henkel“, das mag tatsächlich etwas befremdlich klingen in manchen Ohren bzw. aus anderer Epoche stammen. Da sehe ich eher meine eigene Großmutter vor mir (Jahrgang 1906): mit Kittelschürze und Dutt. Großmütter erlebe ich heute oftmals modisch und sportlich, mit fast jugendlicher Anmutung, mit Smartphone und Skype; unternehmungslustig und flexibel in jeder Beziehung.

Und doch: Was für eine rührende Hommage ist dieses Gedicht. Wie zeitlos wahr. Ein Hoch auf die Großmütter dieser Welt! Ein Hoch auf die Frauen, die – früher oder heute – mit ihrem Einsatz, ihrer Standfestigkeit und Verlässlichkeit dafür sorgen (im besten Wortsinne!), dass ihre Kinder und Enkelkinder es guthaben und einen geborgenen Ort. Ein Hoch auf Großmütter, die anpacken können und an die ein junger Mensch sich hängen kann; Omas mit einem Herz voller Liebe, süß und nahrhaft wie Honig. Ich denke an die Großmütter, die all die Lücken füllen, die im angestrengten Alltag manch einer Familie klaffen. In einem Alltag, der ohne die ältere Generation und deren Einsatz gar nicht zu bewältigen wäre. Zwischen all der Berufstätigkeit und Haushaltsführung, zwischen Kindergarten und Schule, zwischen den Notwendigkeiten und Bedürfnissen, die eine Familie oft an den Rand ihrer Kräfte bringen.

Ein Hoch auf die Großmütter, die von früher erzählen und alte Lieder singen; die von ihrer Lebenserfahrung weitergeben und sich gleichzeitig einlassen auf die neue Zeit und die Herausforderungen, vor denen ihre Enkel stehen. Ein Hoch auf die Großmütter, die Zeit haben und geben, Verantwortung übernehmen und der Fels in der Brandung sind. Es leben die Großmütter! Ein Glück, dass sie da sind. Der süße Stoff, der manches in unserer Gesellschaft zusammenhält, Nährstoff für die Zukunft unserer Kinder.

 

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  3. Steffen Kühnelt
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4 Kommentare

  1. Danke für diese Wahrnehmung der Großmütter!
    Ja, es ist wunderbar und erfüllend und anstrengend, Großmutter zu sein!
    Aber ganz ehrlich, ohne den engagierten, liebevollen und emanzipierten Großvater ginge es gar nicht!
    Also: auch ein Hoch auf die neuen Großväter!

  2. Liebe Astrid, Du sagst es: ein Hoch haben auch die Großväter verdient, nicht nur die der heutigen Zeit! Meine Großeltern wurden schon 1871 und 1875 geboren und waren in ihrer Partnerschaft und Ehe doch so modern, wie selbst heute nicht alle Paare sind. Ich liebte meine Oma und meinen Opa von ganzem Herzen. Sie waren nicht nur „ein Topf voll Honig“, sondern verlässliche Lebensbasis für ihre Kinder und uns Enkelinnen, voller Zuversicht und Gottvertrauen, obwohl sie selbst es nicht leicht gehabt hatten in ihrem Leben. Schon in jungen Jahren verloren sie beide Elternteile und wussten schon früh sehr genau, worauf es im Leben ankommt. Sie konnten Geborgenheit und Zutrauen vermitteln, und was gibt es Schöneres auf der Welt! Danke, liebe Oma und lieber Opa!

    1. Liebe Astrid, liebe Helga, natürlich, Ihr habt Recht. Auch die Großväter sollen hochleben. Auch auf sie kommt es an und ich erlebe selbst rührend engagierte Opas. Heute für meine Kinder und damals meinen Opa für mein eigenes Leben.

  3. Das Bild der Großmutter als Krug oder Honigtopf gefällt mir nicht so gut.Der Hinweis,dass auch Großväter wichtig sind, war bildhafter für mich.Obwohl mein Großvater unendlich streng und ernsthaft war.

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