Lyrik am Freitag – Kleines Lied vom Wenn

Kleines Lied vom Wenn

 

Wenn ich groß bin, bin ich groß

Wenn ich klug bin, bin ich klug

Wenn ich reich bin, bin ich reich

Wenn ich dich find, find ich dich

Wenn ich alt werd, werd ich alt

Wenn ich tot bin, bin ich tot.

 

Nora Gomringer (*1980)

 

Beim Stöbern in einer Auswahl von deutschen Gedichten der jüngsten Zeit fand ich die Zeilen der Deutsch-Schweizerin Nora Gomringer, einer der beachtetsten Lyriker*innen ihrer Generation. Ein „Kleines Lied vom Wenn“… Ich zögere, bin unsicher, was ich davon halten soll: Ist es ein harmloses Kinderlied, verspielt und absurd wie ein Abzählreim („wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär“), gesungen von einem kleinen Mädchen, das ihre Lebensträume singt? Oder steckt mehr dahinter?

Ist es todernst? Ernst wie das Leben, dessen Träume, ehe man sich versieht, ausgeträumt sind, weil der Möglichkeiten im Laufe der Jahre weniger werden, Wege gegangen und andere Wege auf einmal nicht mehr gangbar sind? Weil Reichtum sich nicht eingestellt hat und die Liebe enttäuscht? Das Wörtchen „Wenn“ beschriebe dann weniger eine Bedingung für das, was alles passieren kann oder könnte („Konditionalsätze“ lehrte mich mein Deutschlehrer in der Quinta), sondern das „Wenn“ wäre („temporal“) ein Hinweis auf die Zeit, die vergeht und die kommt. Zwischen dem ungeduldigen „Oh, wenn ich doch eines Tages endlich groß und klug und reich bin…“ und dem Alter, ja dem Tod lägen „hastenichtgesehen“ nur ein paar Zeilen, ein flüchtiges Leben. Die Leichtigkeit des Kinderliedes bliebe mir im Halse stecken (und tut es tatsächlich)…

Vielleicht ist das Lied der Dichterin aber auch ein verstecktes Plädoyer für den Tag, der jetzt ist; und an dem sie sich der Wirklichkeit stellt, statt in Möglichkeiten zu schwelgen bzw. statt verpasste Möglichkeiten zu bedauern. Im Sinne eines „Carpe Diems“, des „gepflückten“ heutigen Tags. Vielleicht steckt in ihren Worten ja eine zuversichtliche Gelassenheit (vielleicht sogar ein Gottvertrauen), mit der/mit dem sie das Leben annehmen und gestalten kann, klug oder nicht, arm oder reich, wie es auch kommt: „So ist es und so wird es sein; und ich mache das Beste daraus. Wenn ich dich denn finde eines Tages, dann finde ich dich. Und wenn ich alt bin, dann bin ich alt und werde das Leben im Alter entdecken. Und wenn ich dereinst tot bin, dann werde ich auch das annehmen.“ Und wer weiß (trotz des Punkts am Ende), ob das der letzte Satz ist…

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1 Kommentar

  1. Für mich klingt es auch als sanfte aufforderung, als erinnerung daran: achtsam mit dem Hier und Jetzt umzugehen, den Moment mit Leben zu füllen und – loszulassen, wenn es dran ist, nicht erst am letzten Tag.

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