Lyrik am Freitag – Cirak: Brücken

Sich warm laufen

 

Weil man weiß daß auch Brücken ein Ende haben

braucht man sich beim Übergang nicht zu beeilen

 

doch auf Brücken ist es am kältesten

(Zehra Cirak, geb. 1960)

 

Ein Dreizeiler. Eine These, mit Neben- und Hauptsatz, und noch ein Satz, eine Anmerkung dazu. Und darüber eine Überschrift. Ein Gedicht, das in seiner Knappheit ein Sprichwort sein könnte. Vielleicht, so meine Fantasie, hat es Zehra Cirak – in Istanbul geboren, in Deutschland aufgewachsen, seit Jahrzehnten in Berlin zu Hause – von türkischen Anverwandten gehört; und es steckt hinter diesen Worten eine orientalische Weisheit. So lebensweise jedenfalls muten sie mir an.

Von Brücken spricht sie, über die Menschen gehen, von den Übergängen des Lebens. Als da sein könnten: Von einer Partnerschaft zum Alleinsein, von der Berufstätigkeit zum Ruhestand, von Gesundheit zur Krankheit, von der Fülle zum Weniger. Aber auch: Von der Kindheit zur Jugend, von der Ungebundenheit zur Verantwortung, zwischen zwei Aufgaben.

„Brücken“ dienen hier als Bild für die Zwischenzeiten des Lebens. Wenn das eine Ufer, eine Lebenszeit, ein Lebensort hinter mir liegt und das andere Ufer, eine neue Zeit noch nicht erreicht ist. Und ich weiß („man weiß“), dass das Neue kommt und ich es vielleicht schon sehen, fühlen, riechen kann; ich es aber noch nicht betreten habe. Brückenzeiten könnten erfüllende Zeiten sein, so denke ich. Ich könnte das Nicht-mehr oder das Noch-nicht-ganz genießen. Die Zeit des Übergangs. Den Abschied, die Vorfreude, je nachdem. Könnte mich auf der Brück sammeln und sortieren, könnte vielleicht auch trauern, ohne mich dabei beeilen zu müssen, ohne ungeduldig zu sein. Denn: die Brücke ist nur eine Brücke, sie wird „ein Ende haben“. Das andere Ufer kommt. Das ist gewiss. Das sagt mir meine Lebenserfahrung.

Und doch „ist es auf Brücken am kältesten“ und mir wird kalt. Die Brücke wird zur schwankenden Hängebrücke. Die Brücke wird zum unbehausten Ort und „the wind of change“ pfeift mir um die Ohren. Ich bekomme es mir der Angst. Da hilft nur, so lese ich die Überschrift als Quintessenz, „sich warm zu laufen“. Nicht zu zögern, nicht zu zaudern, sondern tapfer auszuschreiten. Das eigene Tempo finden. Der eigene Weg entsteht beim Gehen.

 

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6 Kommentare

  1. Ältere Menschen denken dabei besonders an eine letzte Brücke, die irgendwo hinführt, wo es keinen Rückweg mehr gibt. Aber auch da muss man sich nicht beeilen.

  2. Brücken können brechen, (die Brück am Tay) auch zerstört werden (in Kriegen) so dass keine Übergänge mehr möglich sind; Leben enden, Verbindungen werden abrupt unterbrochen. Wohl dem, der über eine Brücke zu Ende gehen kann, warm gelaufen durchs Leben.

  3. Bei dem Wort Brücke flogen Miene Gedanken spontan zur Seufzerbrücke in Venedig , die vom Dogenpalast hinüber zu dem ’neuen Gefängnis‘ führt…über den Rio di Palazzo. Was mochten die Angeklagten, die Verklagten, für Gedanken mit über die Brücke getragen haben, angeklagt zu Recht oder auch mal Unrecht? Wut, Angst, Ärger, Trauer Hoffnungslosikkeit, Einsamkeit? Die Aussicht auf finstere, steinerne, feuchte Kerker… schlimmstenfalls auf ihre Hinrichtung zusteuernd.
    Dann fiel mir die Trostbrücke in Hamburg ein, die über das Nikolaifleet führt. Für ihren Namen gibt es wohl mehrere Deutungen. Mir gefällt hierfür am besten die Theorie, daß sie benannt wurde nach einem Kruzifix, das sich wohl mal darauf befand, dem ‚Trost der Christenheit‘. Die Brücke verband damals die bischöfliche Altstadt mit der gräflichen (weltlichen)Neustadt. Ich frage mich, in welche Richtung das Kruzifix wohl gerichtet war?

    1. Und mir fällt noch ein Sprichwort ein:
      Eine Beziehung ist wie eine Brücke, die jeden Tag aufs Neue aufgebaut
      werden muss, am besten von beiden Seiten.

  4. Ich denke an die schwankenden Hängebrücken,die immer ein unsicheres Gefühl mit sich bringen! Es gibt Zeiten, da ist alles unsicher , schwankend im Leben, da ist man unsicher ob und wie man ankommt, wieder sicheren Boden unter den Füßen hat, auf das andere Ufer trauen muß! Wie es da wohl aussieht? Das braucht Vertrauen und Hoffnung!

  5. Mir fällt hierzu die „Eselsbrücke“ ein.
    Eine Hilfestellung, eine Gedächtnisstütze oder eine Lernhilfe.
    Ich habe sie oft benötigt, aber war ich deswegen ein Esel?
    Esel sind wasserscheu und störrisch aber schlau. Da braucht man eben eine Brücke, um sie über ein Wasser zu treiben .

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