Lyrik am Freitag – Brecht: Lesen

Glückliche Begegnung

 

An den Junisonntagen im Junggehölz

Hören die Himbeersucher vom Dorfe

Lernende Frauen und Mädchen der Fachschule

Aus ihren Lehrbüchern laut Sätze lesen

Über Dialektik und Kinderpflege.

 

Von den Lehrbüchern aufblickend

Sehen die Schülerinnen die Dörfler

Von den Sträuchern die Beeren lesen.

Bertolt Brecht (1898-1956)

Brecht beschreibt in diesem späten Gedicht eine „glückliche Begegnung“. Ich stelle mir vor, dass sie irgendwann zu Beginn der 50er Jahre im Brandenburgischen stattgefunden hat, in der noch jungen DDR. Der Dichter, der dort im Dorf Buckow sein Refugium hatte, hat sie beobachtet und in Worte gefasst: Da sind junge Frauen, die auf ihrer Schule für Kinderpflege nicht nur ihr Fach, sondern, so wie üblich und angeordnet, auch marxistisch-leninistische Ideologie („Dialektik“) lernen, diese sehr eigene und auch enge Theorie, die die Welt und ihre Geschichte erklären will. Die Schülerinnen spazieren an einem Junisonntag – lesend, lernend, sicher auch lachend – durch den Wald; lesen dabei „laut“ aus ihren Lehrbüchern vor. Diskutieren vielleicht angeregt, engagiert, sind ganz in ihrer Welt, in ihrem Lebens- und Erfahrungshorizont aufgehoben.

Die Frauen und Mädchen begegnen nun auf ihrem Weg den „Dörflern“ am Wegesrand; sehen, mehr unbewusst vielleicht, beiläufig, wie diese Himbeeren in den Büschen suchen und sammeln, sie „lesen“. Die Leute vom Land, alt oder jung, eher „einfache“, jedenfalls keine studierten Leute, vielleicht Landarbeiterinnen und Landarbeiter, wissen wahrscheinlich nichts oder wenig von Dialektik, vom ideologischen Überbau ihres jungen Staates. Während dort aus den Büchern Friedrich Engels zitiert wird, pflücken sie hier Beeren, so wie es ihre Eltern und Großeltern schon getan haben. Und ihre Kinder erziehen sie ohne Lehrbuch und Studium, sondern nach überliefertem Wissen und bestem Gewissen. Die Pointe: Da sind „Lesende“ auf beiden Seiten; einander vielleicht fremd in ihrem Tun, in ihrem Leben, doch nehmen sie einander wahr, bekommen eine Ahnung vom Leben der anderen. Für einen Moment öffnet sich das Fenster zu einer anderen Lebenswelt. Ein Perspektivwechsel, so mag es sein, für die einen wie für die anderen. Ein Aufmerken, ein Wachwerden. Für den Dichter ist es so eine „glückliche Begegnung“, ein Gewinn für beide.

Bücher lesen und Beeren lesen. Lesen und Lesen. Ein „Teekesselchen“, das gar keines ist; kein echtes jedenfalls, streng genommen. Denn beide Arten von „Lesen“ bedeuteten einst das Gleiche oder präziser gesagt: sie stammen aus derselben Wurzel, haben in ihrer Bedeutung denselben Ursprung. Lesen meinte ursprünglich, aus dem mittelalterlichen Mittelhochdeutschen kommend, „auswählend sammeln bzw. aufheben.“ Erst später wurde aus dem Tun mit der Hand ein mündliches bzw. geistiges Tun: So wurde erst wurde aus dem Sammeln ein „Erzählen“ und „Berichten“, also: Das, was ich (an Erfahrung) gesammelt habe, das gebe ich mit Worten weiter; später dann das „Aufheben“ von „Buchstaben“ (darin steckt ja der Stab, altgermanische Schriftzeichen, die man tatsächlich aufheben konnte), das Lesen von Texten und Büchern, so wie wir es heute verwenden.

Lesen: „auswählend sammeln“. Dafür braucht es einen wachen, offenen Blick. Konzentration. Und die Gabe das Gesammelte zu begreifen. Im Wortsinne: Die Beere, die Ähre, das kleine Fundstück will wahrgenommen und aufgelesen werden. Im übertragenen Sinn: Der schöne Satz, der in Worte gefasste, zu Papier gebrachte Gedanke, will mit den Augen und dem Verstand aufgelesen werden, aufgehoben und verstanden. Sommerzeit ist Lesezeit. So und so. Ich wünsche uns Leseerfahrungen: dass wir mit den Händen, den Augen, dem Verstand und mit allen Sinnen lesen und begreifen. Und ab und zu dabei den Blick heben, weil uns dann „glückliche Begegnungen“ passieren können.

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1 Kommentar

  1. „Glückliche Begegnungen“ finden wohl häufig statt, wenn unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, aber es genügt – meiner Ansicht nach – nicht, die andere Welt nur wahrzunehmen. Es muss schon eine innere Bewegung dazu kommen, damit Begegnung in mir etwas in Gang bringt, das mich glücklich macht, oder ist das Wahrnehmen allein doch schon als „glücklich“ zu bezeichnen, weil es meinen Horizont erweitert?

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