Lyrik am Freitag – Borchers: Umzug

Umzug

Ich räume das Haus

die Zimmer, die Treppen

die Jahre, Jahrzehnte

die Tage und Nächte

die Freunde, die Feinde

die Tassen, die Teller

die Kissen, die Decken

den Himmel, die Hölle

die Gräber

ich räume und räume

den Winter, den Sommer

den Wind und das Wetter.

Elisabeth Borchers (1926-2013)

 Der Umzug, von dem die Dichterin (Übersetzerin und Lektorin) Elisabeth Borchers in ihrem letzten (veröffentlichten) Gedicht schreibt, ist kein einfacher Tapetenwechsel. Ihr Umzug bedeutet gleichzeitig den Beginn einer letzten Lebensphase, denn der Auszug aus ihrer Wohnung im Frankfurter Westend ist der Umzug in ein Pflegeheim. Eine schleichende Demenz macht diesen Schritt notwendig: erst noch „betreutes Wohnen“, bald wird eine umfangreichere Pflege nötig sein. Für Elisabeth Borchers ist der Umzug gleichbedeutend mit dem Verlust der Selbständigkeit. Das ist ein weitreichenderer Abschied als der Umzug in ein neues Quartier, an einen neuen Arbeitsplatz mit interessanten Aufgaben und Perspektiven. Der Reiz des Neuen fehlt bei diesem Umzug ganz.

Mir begegnen in unserem Quartier Rissen oft ältere Menschen, die an dieser Schwelle stehen. Die diesen Schritt hinein in eine neue, wahrscheinlich letzte Lebensphase bedenken, ggf. mit ihren Lebenspartnern erörtern und Alternativen abwägen. Menschen, die sich schwer tun mit dem Gedanken Abschied zu nehmen von Haus und Garten, dem vertrauten Heim, das oft über Jahrzehnte ein Zuhause war. Da sind aber auch diejenigen, die – so schwer es auch fällt – schon planen, sortieren, aussortieren und räumen, so wie es die Dichterin beschreibt: „Ich räume, ich räume.“ Die ihr Leben bei dieser Gelegenheit noch einmal „räumend“ in die Hand nehmen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, „die Tassen und Teller, die Freunde und Feinde, die Gräber; die Jahre und Jahrzehnte.“ Das ist, so höre ich es, ein Nachbereiten dessen, was war; ein Erspüren und Erinnern von dem, was das Leben in seinem Verlauf ausgemacht hat. Das Leichte und das Schwere gehört dazu, „der Winter und der Sommer“. Bei diesem Tun stelle ich mir ein „Ad-Acta-Legen“ und „Abschied-Nehmen“ genauso vor wie ein „Frieden-Schließen“. So, dass – positiv gewendet – aus der Nachbereitung eine Vorbereitung werden kann für das, was noch kommt: Für ein Alt-Werden und Alt-Sein im Reinen mit sich und der Welt. Für eine gute letzte Lebensphase.

Schließlich noch das: Das (Auf-)Räumen auch am Ende eines jeden Winters (die Tradition heißt Frühjahrsputz!) hat seinen guten Sinn. Wo ist es gut „Klar-Schiff“ zu machen, was lasse ich zurück, was nehme ich mit, wenn die neue Saison beginnt? Zum Aufräumen der Seele kann auch das Beten gehören. Ich kann Gott all meine inneren Unaufgeräumtheiten hinhalten und spüren, dass ich nicht allein bin, wenn ich anfange mein Lebenshaus in Ordnung zu bringen.

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1 Kommentar

  1. Die letzte PERSPEKTIVE :Eng, Anders leben, kein eigener Lebensrythmus mehr möglich, selten Gleichgesinnte, unendliche Einsamkeit und Abhängig-keit — u.s.w. , ob da das Beten reicht?und die Telefongespräche,die seltenenBesuche ? ————- Ist es nicht eine Leere und Enge? Wenn man so oft umgezogen ist , der wünscht sich vor allem, daß dieses Leben ein Ende hat und man ein ewiges Neues Leben, unvorstellbar in Gottes Nähe beginnen darf!!

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